Beliebte Lehrer

Beliebte und originelle Lehrer werden heute immer weniger und wenn, dann werden sie nicht als Original bezeichnet, sondern als geil. Einen solch geilen Lehrer hatte Uschi im letzten Schuljahr und jetzt im neuen Schuljahr hat sie ihn wieder. Sie und die anderen mögen ihn und nennen ihn freundlich den heiligen Michael. Wegen seiner im Unterricht zum Zopf geflochtenen langen blonden Haare, die er außerhalb der Schule offen trägt. Die Vorstellung, wie Erzengel auszusehen, hat sich offenbar auch in der modernen Schule nicht geändert. Außerdem heißt er HI. Michael, weil er „Wert auf Rituale" legt, wie er selbst sagt. So geht er zur Begrüßung von Tisch zu Tisch, klopft auf jede Tischplatte und sucht den Blickkontakt von jedem seiner 22 Schüler. Bei Klassenarbeiten und Tests lässt er die Hefte nicht einfach austeilen, sondern geht herum und gibt jedem das eigene Heft. Mit irgendwelchen netten, aufmunternden Worten. Heute nun passierte das, was den normalen Lehrer zum Original werden lässt bzw. geil: Der HI. Michael war beim Austeilen der Hefte für den ersten Mathe-Test im neuen Schuljahr am letzten Tisch - bei Uschi - angekommen, gibt ihr aber nicht das letzte Heft, ihres, um dann nach vorne zu gehen und die Aufgaben auf dem Tageslichtschreiber auszugeben. Vielmehr sammelt der HI. Michael mit seinem freundlichen Lächeln die eben gerade ausgeteilten Hefte an diesem Tisch wieder ein. Mit einem an diesem Tage besonders gütigen, in sich gekehrten, abgewandten Lächeln, empfand Uschi. Das alles tat der HI. Michael, indem er ermunternd das vermutete Test-Ergebnis kommentierte („wird schon geworden sein, keine Angst"!). Der HI. Michael ist 32 Jahre alt und konnte kaum Skerotisierungs-Probleme haben. Uschi und ihre Tischgenossen waren deshalb viel zu perplex und ließen sich die Hefte wieder aus der Hand nehmen. Erst am zweiten Tisch gab es amüsierten Einspruch: „Hey, Doktor, wir wollen getestet werden..." „War der vielleicht süß", schwärmte Uschi zuhause wehmütig und schaute in die Weite der Küchenlampenverästelungen, „verliebt ist..." Sie haben die Arbeit dann noch schreiben dürfen. Mich wurmte diese Geschichte sehr. Nicht, daß ich dieses HI. Michaels liebenswerte Leistungsvergessenheit nicht auch liebenswert fände oder ihm den Zuwachs an Geliebtheit nicht gönnte. Bewahre! Nein, es ist mehr wegen Heinrich. Denn meinem Freund Heinrich schlug solche Vergesslichkeit kürzlich in das Gegenteil um, als er - er ist Psychologie-Professor - vor einem Monat Examina abnahm. Heinrich ging nämlich wie immer bei den Prüfungen mit seinen Kandidaten in deren Lehrprobe, sah sich diese an und prüfte dann sehr praxisbezogen vor dem Hintergrund der Lehrprobe. Viel praxisnäher als die reinen Theorie-Prüfungen seiner Kollegen! Weshalb ich Heinrich auch schätze. Nun ja, vor einem Monat passierte dann, bei dessen Eröffnung Heinrich bis heute rote Ohrläppchen bekommt. Felicitas, eine seiner Kandidatinnen, hatte soeben die Lehrprobe mit ihren Gruppenmitgliedern abgeschlossen und nun sollte die Eröffnung der eigentlichen Prüfung durch Heinrich erfolgen, der zwischen Mit-Prüfern und Protokollanten und anderen Kandidaten den Vorsitz führte. In die erwartungsvolle Pause zwischen Lehrprobe und Prüfungsteil hinein sagte Heinrich jedoch zur blonden Felicitas die Formel: „Vielen Dank herzlichen Dank. Hiermit schließen wir die Prüfung und ziehen uns zur Beratung zurück.“ Waren es die langen, blonden, frischgewaschenen Haare von Felicitas? War es sein bevorstehender Kongress? Erst an der atemlosen Stille, am verdatterten Gesicht seiner mitprüfenden Professorenkollegin und am ratlosen Gesicht von Felicitas und ihren Kommilitonen spürte ich dann, daß etwas nicht stimmte. Ich meine, Heinrich spürte das. Aber da war es zu spät und das Gesicht begann, das sich seitdem in Heinrichs Hochschule in allen Gremiensitzungen auf den kopfschüttelnden Gesichtern seiner würdigen Kollegen fortsetzte.

27. August 1996